Wie sie mir die ersten 35 Lebensjahre fehlte und wie ich sie wiederfand
Es gibt Sprachen, die ich nie wirklich gelernt hatte – und doch sind sie die wichtigsten überhaupt: die Sprache der Mutter und die Sprache des Vaters.
Nicht im biologischen Sinn.
Sondern im inneren:
Das Fühlen nach innen – die Muttersprache.
Und das Ausdrücken nach außen – die Vatersprache.
Beides sind Grundfähigkeiten, die wir brauchen, um uns selbst und andere wirklich zu verstehen. Ich habe lange keine von beiden wirklich gesprochen.
Wie ich mich selbst kaum fühlen konnte
Wenn ich ehrlich bin, habe ich nie gelernt, wie Fühlen eigentlich geht.
Ich wusste, wie man denkt, analysiert, reagiert, funktioniert – aber nicht, wie man fühlt und darüber spricht.
Als Mann konnte ich Situationen beschreiben, Entscheidungen treffen, Verantwortung übernehmen – aber wenn mich jemand fragte „Wie fühlst du dich?“, war da oft Leere. Ein Druck in der Brust vielleicht, ein Kloß im Hals, manchmal Wut. Aber Worte dafür? Keine.
Lange dachte ich, das wäre normal. Erst später merkte ich, wie sehr mir dieser Zugang zu mir selbst gefehlt hatte – und wie schwer es war, ihn wiederzufinden.
Ich sehe, dass es vielen Männern ähnlich geht. Und auch viele Frauen, mit denen ich arbeite oder spreche, erzählen, dass sie zwar fühlen, aber oft keine Sprache dafür finden.
Das Wiederlernen der Muttersprache: Fühlen
In den letzten Jahren habe ich begonnen, das Fühlen neu zu lernen. In Kreisen, Retreats, Gesprächen – oder einfach in stillen Momenten mit mir selbst.
Ich habe gelernt, die Aufmerksamkeit nach innen zu lenken, zu spüren, was da eigentlich in mir lebt: Angst, Freude, Trauer, Wut, Liebe.
Dieses bewusste Hinfühlen ist kein esoterischer Luxus.
Für mich war es eine Rückkehr zu etwas ganz Menschlichem.
Denn sobald ich mich selbst fühlen konnte, geschah etwas Wesentliches:
Ich begann, mich selbst zu achten. Ich richtete meinen Blick von außen – von Leistung, Anerkennung, Funktionieren – nach innen. Und das war der erste Schritt zu echter Selbstliebe.
Das Wiederlernen der Vatersprache: Worte für das Innere finden
Doch Fühlen allein reichte nicht.
Gefühle wollten ausgedrückt werden.
Erst als ich begann, Worte für mein Inneres zu finden,
entstand etwas, das ich vorher nicht kannte:
Selbstverständnis.
Ich begann, mich selbst zu sehen und zu verstehen.
Und aus diesem Verständnis wuchs Mitgefühl –
erst mit mir selbst, dann mit anderen.
Wenn ich heute sagen kann:
„Ich bin traurig.“
„Ich fühle mich unsicher.“
„Ich habe Angst.“
– dann entsteht Verbindung.
Ich werde gesehen – und sehe zugleich mich selbst klarer.
Warum das Fühlen und darüber Sprechen innere Heilung bringt
Mit jedem ehrlichen Moment, in dem ich meine Gefühle wahrnehme und ausspreche,
löse ich alte Schichten von Scham, Schweigen und Verdrängung.
Ich spüre, dass dieser Prozess nicht nur mich betrifft,
sondern auch etwas in meiner Geschichte, in meiner Familie, heilt.
Denn vieles, was uns blockiert, sind ungesprochene Emotionen – nicht nur unsere eigenen, sondern auch die, die wir unbewusst übernommen haben.
Wenn ich sie endlich fühle und benenne, lösen sie sich. Dann kann ich wirklich aufräumen, vergeben, loslassen.
Und in diesem Prozess geschieht etwas Großes:
Ich beginne, meine Eltern, meine Partnerin, meine Kinder zu verstehen – weil ich verstehe, wie schwer es ist, zu fühlen und darüber zu sprechen.
Wenn das Weibliche und Männliche wieder zusammenfinden
Das Fühlen ist der weibliche Pol.
Das Sprechen darüber der männliche.
Beides zusammen erschafft Ganzheit.
Es ist die Vereinigung von Innen und Außen,
von Herz und Verstand,
von Verletzlichkeit und Klarheit.
Wenn ich wieder lerne, mich selbst zu fühlen
und dafür Worte zu finden,
beginnt echte Begegnung.
Dann erkenne ich andere Menschen – jenseits von Rollen, Erwartungen oder alten Geschichten.
Das ist der Moment, in dem Beziehung heilsam wird.
Weil sie nicht mehr auf Anpassung oder Abwehr beruht,
sondern auf echtem Fühlen und ehrlichem Mitteilen.
Fazit: Die vergessene Sprache des Menschseins
Ich bin eingeladen, beide inneren Kräfte wieder miteinander zu vereinen:
das Weibliche – das Fühlen –
und das Männliche – den Ausdruck.
Erst wenn beides in mir verbunden ist,
entsteht die Basis für lebendige Beziehung –
zu mir selbst, zu meinem Gegenüber, zur Welt.
Das ist kein schneller Prozess.
Aber jeder ehrliche Moment, in dem ich mich selbst fühle und ausdrücke,
ist ein Schritt zurück in meine Ganzheit.
Denn das Fühlen ist keine Schwäche.
Es ist der Ursprung von Wahrhaftigkeit, Verbindung und Stärke.
Und vielleicht ist genau das die Sprache,
die ich als Mensch wieder lernen durfte –
damit Begegnung nicht nur über Worte geschieht,
sondern auf Herzensebene wirklich verbindet.