Wie ich mich im Außen verlor – und in mir selbst wiederfand
Es gab einen Moment in meinem Leben, an dem ich begriff, dass mein ewiges Kämpfen mich nicht weiterbringt.
Ich wollte recht haben, glänzen, etwas beweisen – anderen, mir selbst, der Welt. Ich tat, machte, leistete, optimierte. Doch in den stillen Stunden kam immer wieder dieses leise Gefühl:
Es reicht nicht.
Ich reiche nicht.
Diese Rastlosigkeit war das Spiel meines Egos. Der Versuch, eine innere Leere mit äußeren Erfolgen zu füllen. Aber statt zu heilen, entfernte ich mich immer weiter von mir selbst. Denn solange ich im Außen kämpfte, verlor ich den Kontakt nach innen.
Der Wendepunkt
Der entscheidende Moment kam, als ich aufhörte zu kämpfen und kapitulierte.
Nicht, weil ich resigniert hätte – sondern weil ich erkannte, dass es nichts zu gewinnen gab, solange ich gegen mich selbst unterwegs war.
Dieses Aufgeben war kein Zeichen von Schwäche. Es war ein Akt von Mut – der Moment, in dem ich meinem Ego die Waffen aus der Hand nahm und der Wahrheit ins Gesicht sah:
Ich muss niemandem mehr etwas beweisen.
Ich darf aufhören zu rennen.
Ich darf mich dem Moment hingeben.
Psychologisch war das ein Akt radikaler Selbstannahme. Spirituell war es Demut – die Erkenntnis, dass ich nicht die ganze Last der Welt tragen muss, weil es ein größeres Ganzes gibt, das mich hält. Manche nennen es Gott, andere das Leben, die Quelle, das Feld.
Meine persönliche Geschichte
Ich bin in einem konservativen Elternhaus aufgewachsen. Materiell fehlte es mir an nichts – und doch fühlte ich mich emotional oft allein. Es gab wenig Nähe, wenig echtes Gesehen-werden. Kaum Berührung, kaum Halt.
In meiner Schulzeit erlebte ich über Jahre hinweg Mobbing. Ich reagierte mit Anpassung, mit Stärke, mit Funktionieren. Ich wollte dazugehören – und verlor mich dabei selbst.
Erst weit nach meinem 30. Geburtstag begann ich, meine Geschichte anders zu betrachten. Ich öffnete mich meinen Verletzungen, meinen Traumata – und fand darin den Zugang zu etwas viel Größerem: innerem Frieden, Selbstwert, Verbundenheit.
Rückblickend erkenne ich, dass mich schon früher etwas getragen hat. In meiner christlichen Prägung war es das Gefühl eines liebenden, gnädigen Gottes, der mir zuflüsterte:
„Du warst schon immer in Ordnung. Ich liebe dich, mein geliebter Sohn. Du bist getragen und gehalten in Gnade und Barmherzigkeit.“
Diese Stimme war leise – aber sie war da. Und sie hat mich durchgetragen.
Demut und Gnade
Heute weiß ich: Es braucht Demut, um dieses größere Ganze anzuerkennen.
Demut heißt für mich nicht, mich kleinzumachen. Sie heißt zu verstehen, dass ich Teil eines unermesslichen Universums bin – und dass mein Wert nicht davon abhängt, wie perfekt oder stark ich scheine.
Gnade wiederum ist die Haltung mir selbst gegenüber. Sie sagt:
Ich vergebe mir meine Fehler, meine Umwege, meine selbst erschaffenen Geschichten.
Ich nehme an, dass ich es damals nicht besser wusste – und dass ich heute neu beginnen darf.
Gnade bedeutet, mir selbst die gleiche Barmherzigkeit zu schenken, die ich so oft anderen gegeben habe.
Ich muss nichts tun – nur sein
Das Paradox ist: Erst als ich aufhörte, im Außen zu kämpfen, öffnete sich die Tür zu innerem Frieden.
Erst als ich die Kontrolle losließ, fand ich den Weg zurück zu meinem Wesenskern – zu dem inneren Kind in mir, das nichts leisten muss, um geliebt zu sein.
Wenn ich mich traue, in diesen Raum einzutreten, spüre ich: Es gibt gerade nichts zu tun.
Ich muss niemanden beeindrucken.
Ich muss nichts kompensieren.
Ich darf einfach da sein.
In diesen Momenten bin ich nicht Mangel, sondern Fülle.
Nicht Getriebener, sondern Mensch.
Die Weisheit des verletzten Kindes
Doch in diesem „Da-Sein“ begegne ich auch meinen alten Wunden.
Mein verletztes Kind ist nicht verschwunden, nur weil ich erwachsen geworden bin. Es lebt in meinem Körper, in meinen Reaktionen, in meiner Sehnsucht nach Nähe. Die Emotionen, die ich damals nicht halten konnte, sind geblieben – bis ich bereit war, ihnen Raum zu geben.
Der Arzt und Trauma-Experte Gabor Maté sagt:
„Give attention to your tension.“
Meine Anspannung ist kein Feind, sondern ein Signal. Wenn ich mich meinen Empfindungen liebevoll zuwende, wenn ich sie nicht länger wegdrücke, sondern fühle, geschieht etwas Entscheidendes:
Der Schmerz muss nicht verschwinden – er darf einfach sein.
Denn er ist Ausdruck meines inneren Kindes, meines Kleinen.
Die Verbindung zu diesem „Kleinen“ ist heute zu einer Übung geworden. Ich stehe dabei noch am Anfang – und doch spüre ich, dass sie mich weiterbringt als jedes noch so intensive Suchen nach Heilung im Außen.
Denn Heilung geschieht nicht draußen.
Sie geschieht in der Beziehung zu mir selbst – in der stillen, liebevollen Aufmerksamkeit für das, was da ist.
Ein neuer Anfang
Aufzugeben, zu kapitulieren und zu fühlen bedeutet, nach Hause zu kommen – in mir selbst.
Es heißt, die Stimmen der Angst und des Egos leiser werden zu lassen und die leise Wahrheit zu hören:
„Du bist genug. Schon immer. Für immer. Ich liebe dich.“
Da ist kein Ziel, das ich erreiche.
Es ist ein Prozess, ein Erinnern, ein tägliches Üben von Demut, Gnade und Zuwendung zu dem verletzten Kind in mir.
Jeder Schritt auf diesem Weg bringt mich näher an das, was ich in der Tiefe bin: kein Kämpfer, sondern ein liebendes, getragenes Wesen.
Und vielleicht liegt genau darin meine größte Freiheit:
nichts mehr beweisen zu müssen –
sondern einfach zu fühlen. Und zu sein.